Sterbehilfe braucht Ethik

von Matthias Kamann, Die Welt kompakt 18.07.14

Statt eines Totalverbotes jeder organisierten Suizid-Beihilfe benötigt das Land Freiräume für individuelle Entscheidungen des Gewissens. Diese Freiräume zu gestalten ist eine Aufgabe vor allem für die Ärzte und die Kirchen.

Anne und Nikolaus Schneider sind sich bei der Sterbehilfe nicht einig. Er, der EKD-Ratsvorsitzende, spricht sich gegen jede organisierte Suizid-Beihilfe aus und zeigt sich nur bereit, seine krebskranke Frau aus Liebe und gegen seine Überzeugung in die Schweiz zu begleiten. Anne hingegen beharrt darauf, notfalls Gift trinken zu können, und kritisiert die Verbotsforderungen der Kirche. Doch eine gemeinsame Botschaft hat das Ehepaar: Suizid-Assistenz in Aussicht zu nehmen und darüber ergebnisoffen nachzudenken, ist kein Zeichen für Dummheit oder charakterliche Deformation.

Dass es hierfür ein Zeichen sei, wird gern suggeriert. Zum einen bezüglich der Anbieter: Roger Kusch gilt als Finsterling – sodass man auf eine differenzierte Kritik seines Vereins Sterbehilfe Deutschland meint verzichten zu können –, ärztliche Sterbehelfer werden in die Nähe der Scharlatanerie gerückt. Zum andern werden deren Klienten wie Verblendete angesehen, wie Unmündige. Sie wüssten nicht, wie gut ihnen die Palliativmedizin helfen könne. Man müsse sie nur besser pflegen, dann würden sie sich nicht aus Angst vor dem Siechtum in Altersheimen umbringen.

Hiergegen bezeugen die beiden Schneiders: Es ist Ausdruck von hoher sozialer und ethischer Intelligenz, von Belesenheit und Lebensklugheit, sich mit Sterbehilfe in allen Konsequenzen auseinanderzusetzen. Dies demonstrieren die beiden unter Offenlegung privater Haltungen und Erfahrungen. Das geht auch nicht anders. Die Entscheidung beträfe sie höchstpersönlich.

Doch diese private Rede in der Öffentlichkeit hat eine paradoxe Folge. Nämlich Folgenlosigkeit im offiziellen Sterbehilfediskurs von Politik und Kirche. Keiner der dortigen Protagonisten war bisher bereit, sich konkret auf die Argumentationen und Motive im Hause Schneider einzulassen. Bekundet wird allenfalls "Respekt" vor persönlichen Haltungen, in die man sich nicht einmischen wolle. Solche Schweigezonen entstehen immer, wenn es um Sterbehilfe bei Prominenten geht. Als sich 2010 die Eheleute Helga und Eberhard von Brauchitsch, beide schwer krank, gemeinsam bei "Exit" in der Schweiz das Leben nahmen, schwiegen hernach selbst die erbittertsten Sterbehilfegegner. Privates bewerte man nicht. Und noch als Franz Müntefering unlängst das Sterbehilfeplädoyer des früheren MDR-Intendanten Udo Reiter zurückwies, machte Müntefering einen Bogen um Reiters persönliche Lage und Motive, beschäftigte sich nur mit eventuellen Folgen der Sterbehilfe für die Gesamtgesellschaft.

Solcherart das Individuelle in Schweigezonen auszulagern dürfte demnächst zum Kennzeichen des staatlichen Umgangs mit Sterbehilfe werden. Viel spricht dafür, dass der Bundestag 2015 ein weitreichendes Verbot jeder organisierten, regelhaft angebotenen Suizid-Beihilfe beschließen wird. Zugleich aber werden dann wohl alle Verbotsbefürworter erklären, dass sie Respekt für individuelle Zwangslagen hätten, in die sich der Staat nicht einmischen dürfe. Bloß dass dann alle Möglichkeiten verboten wären, um Konsequenzen aus individuellen Entscheidungen für den Freitod zu ziehen. Es sei denn, man würfe sich vor Züge oder wäre wohlhabend genug, um in die Schweiz zu fahren. Worüber aber geschwiegen würde. Zumal bei Prominenten. Wegen des Respekts. Der jedoch wäre ein verlogener. Denn ein strenges Verbot würde ja dem angeblich Respektierten jede Möglichkeit der Umsetzung entziehen.

Daher ist, statt nach Totalverboten, nach Lösungen zu suchen, die dem Respektierten, also den individuellen Erwägungen, strukturierte Räume eröffnet, in denen sich gewissensgeleitet handeln lässt. Der Staat hätte also nur zu verbieten, was inakzeptabel ist: Kommerziell gewinnorientierte Sterbehilfe, anstößige Werbung dafür, ein Bedrängen potenzieller Klienten. Im zweiten Schritt wäre zu klären, wie die Praxis reguliert werden muss, um Missbrauchsmöglichkeiten auszuschließen. Lehrmaterial dafür gibt es. Etwa in US-Bundesstaaten, zumal Oregon, wo todkranken Sterbewilligen erst nach mehrfacher ärztlicher Begutachtung ein tödliches Medikament ausgehändigt werden kann. Die deutsche Debatte benötigt dringend die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit solchen Modellen. Allerdings sind Regulierung Grenzen gesetzt. Zum einen, weil sie dazu führen könnte, dass der Staat als Zuteilungsinstanz für Selbsttötungen erschiene. Zum andern, weil es sich hier um individuelle Erwägungen handelt, die ihre eigenen Entfaltungsräume brauchen. Unterhalb allgemeingültiger Gesetzestexte – aber oberhalb von Geheimtreffen im Familienkreis, die in "wilden" Selbstmorden enden.

Experten dieses Zwischenreiches sind Ärzte. Einerseits den Regeln der Medizin verpflichtet, stehen sie andererseits im Vertrauensverhältnis zu Patienten, mit denen sie Entscheidungen gewissenhaft und gewissensgeleitet aushandeln sollen. Dazu können Sterbehilfe-Entscheidungen gehören. Daher wäre es verheerend, jene Entscheidungsspielräume durch ein Gesetz zu zerstören, das, wie es manche planen, auch mehrfach als Suizidhelfer tätige Ärzte mit Strafe bedrohen würde. Es ist bereits jetzt verheerend, dass die Bundesärztekammer unter ihrem Präsidenten Frank Ulrich Montgomery die Suizid-Beihilfe ausdrücklich und komplett aus ihrer offiziellen Medizinethik verbannt hat. Zwar folgen dem nicht alle Ärzte und auch nicht alle der für sie standesrechtlich zuständigen Landesärztekammern. Doch dies verstärkt nur die Tabuisierung: Wenn Sterbehilfe stattfindet, dann im Geheimen nach willkürlichen Regeln, weil ein offenes Gespräch über deren Ethik nicht geführt werden darf. Es ist höchste Zeit für einen Austausch der Ärzte darüber, dass manche von ihnen nicht anders können, als Suizid-Beihilfe zu leisten.

Solche Gespräche müssen aber auch die Kirchen führen, die genau wie die Ärzte in Zwischenbereichen agieren, wo sich Intimes und Allgemeines durchdringen. Hier hätten die Kirchen und zumal die evangelische mit ihrem Prinzip der individuellen Verantwortung vor Gott einen Sterbehilfediskurs zu beginnen, der beidem Entfaltungsräume eröffnet, den Grundsätzen und dem persönlichen Gewissen. Dass die Protestantin Anne Schneider dies fordert und der EKD-Ratsvorsitzende das mitträgt, eröffnet eine Chance, die die evangelische Kirche nicht ungenutzt lassen darf.